
»Eh ich euren Wunsch erfülle, muß ich drei Kleider haben, eins so golden wie die Sonne, eins so silbern wie der Mond, und eins so glänzend wie die Sterne; ferner verlange ich einen Mantel von tausenderlei Pelz- und Rauhwerk zusammengesetzt, und ein jedes Thier in eurem Reich muß ein Stück von seiner Haut dazu geben«
Aus Grimms Märchen
Andreas Walther breitete mit seinem, zur Wintersonnwende 2020 erschienenen, Magazin „Allerleirauh“ einen solchen Zaubermantel vor uns aus und leistete damit einen absolut lesenswerten, von der Themenauswahl her bewusst schräg gestalteten, Beitrag zum deutschen Underground Blätterwald. Auf 80 Seiten finden sich Interviews mit Künstlern aus der eher traditionellen Ecke des Heavy Metal, genauso wie Gespräche mit Vertretern des magischen und schwermütigem Folks, welche sich zusammen mit Beiträgen über z.B. Grimms Märchen und Kurzportraits starker Dichterfrauen zu einem bunten Potpourri verdichten.
Zusammengenäht zum eingangs erwähnten Zaubermantel werden diese (nicht ganz) „tausenderlei Rauhwerke“ schlussendlich durch die spannenden Fragen Walthers in Gesprächen mit Künstlern und dessen unbestreitbarerer Begabung im Umgang mit Sprache und Ausdruck im Allgemeinen. Kein Wunder, liegt die Veröffentlichung seines Gedichtbandes „Nachtgarten“, aus dem sich einige Stücke auch im Magazin finden lassen, noch nicht allzu lange zurück. Für den Eibenreiter also Anlass genug für ein vertiefendes Gespräch mit dem Kollegen vom „Allerleirauh“.

- Hallo Andreas, erst einmal herzlichen Glückwunsch zum erfolgreichen Start deines Projekts! Wie man hört, ging die erste Auflage recht geschmeidig unter das Volk und du musstest bereits die zweite Auflage nachschieben. Fangen wir aber ganz von vorne an. Wie kam es denn initial zu der Idee ein kleines Nischenmagazin produzieren zu wollen und wie steht das Märchen Allerleirauh mit deinen „Nachrichten aus dem unsichtbaren Königreich“ in Verbindung?
- Vielen Dank für Deine lieben Worte. Ich war recht überrascht, ob der Nachfrage, denn die erste Auflage war nach zwei Wochen ausverkauft. Und das bei diesen obskuren Themen. Die Idee zu einem eigenen Magazin hatte ich seit dem Frühjahr 2020. Vorher habe ich lediglich einzelne Interviews oder Rezensionen für das »Mørkeskye«, das fabelhafte und bereits seit fast drei Dekaden bestehende Fanzine meines Freundes Thor Wanzek, geschrieben. Irgendwann reifte in mir dann der Wunsch, nicht nur ein weiteres klassisches Metal-Fanzine zu erschaffen, sondern ein seltsames Etwas ins Leben zu rufen, in dem sowohl Themen behandelt werden, die unterschwellig die bierselige Magengrube zum Wippen bringen, als auch Themen, die den Kopf für bestimmte Sichtweisen oder neue Impulse frei machen. Zwischen Kopf und Bauch liegt bei den meisten Lebewesen das Herz und jenes sollte wiederum das verbindende Element zwischen allen Interviews und Artikeln sein, denn alle im Heft vertretenen Künstler haben mit ihrem Herzblut jene Kunst erschaffen, die Ziel, Flucht oder Refugium in diesen unsicheren Zeiten sein kann. In diesem Sinn also ein ganzkörperliches Konzept. Was das »unsichtbare Königreich« angeht, muss ich mich leider als hoffnungslosen Romantiker outen, der immer noch glaubt, dass jene Dinge zu uns sprechen, die man heute gemeinhin als gegenständlich, naturnah oder unsichtbar tituliert. Von Paul Valéry stammt der schöne Satz »Sehen, was jedermann sehen kann, aber nicht sieht.« Und genau darum geht es mir und dem »Allerleirauh«. Ein jeder Mensch trägt diese unsichtbaren Königreiche in sich. Ob er sie aufsuchen und kennenlernen möchte, liegt jedoch ganz bei ihm selbst. Natur, Kunst und Kultur können Schlüssel zu diesen Reichen sein. Allerdings sollte man auch so ehrlich sein, sich einzugestehen, dass diese Schlüssel nur noch von Wenigen genutzt werden. Die Natur ist zur bloßen Landschaft verkommen, die vom Menschen »gestaltet wird« und große Teile der zeitgeistigen Kunst dienen heute lediglich der Unterhaltung.
- An wen richtet sich das Allerleirauh in erster Linie? Hattest du einen bestimmten „Lesertyp“ im Kopf oder bist du beim Schreiben und Sammeln der Interviews eher auf gut Glück deinen eigenen Leidenschaften und Interessen gefolgt?
- Letzteres. Ich habe und hatte keinen bestimmten Lesertyp (gibt es den überhaupt?) im Sinne, sondern habe seit dem Frühjahr Dinge zusammengetragen, die mich bewegten und die mir am Herzen lagen. Hinzu kam, dass ich in diesem bescheuerten Jahr so etwas mitmachen musste, was gemeinhin als Lebensbruch bezeichnet wird. Und so habe ich mich auf die Dinge konzentriert, die mir nahestanden und die ich in anderen Magazinen vermisst habe. Ich weiß dabei auch um meine Schwächen, denn oftmals konnte ich erst spät in der Nacht an den Texten und Übersetzungen arbeiten und so ist manches recht kurz oder bruchstückhaft geraten. Aber vielleicht sind dies auch gute Ansatzpunkte, um sich näher mit den Personen oder Gedanken auseinanderzusetzen? Wenn man Blut geleckt hat, folgt man der Fährte ja wie im Traum.
- Die beiden im Allerleirauh abgedruckten Gedichte aus deiner Feder wirken auf mich melancholisch märchenhaft und entrückt zugleich. Dein Gedichtband „Nachtgarten“, der ebenfalls 2020 erschien, ist ein „Buch für Liebende und der Welt abhanden gekommene Menschen“. Von was erzählt „Nachtgarten“?
- Das ist eine Sammlung von Gedichten, die ich mit einem bestimmten Menschen verbinde. Teilweise sind die Gedichte jahrzehntealt. Und im Sommer kam der unmittelbare Wunsch, diese zu sammeln und in einem Band zu veröffentlichen, um jenes Lebenskapitel schließen zu können. Es braucht ja nicht viel, um der Welt abhanden zu kommen. Im Kleinen kann das bei einem Waldspaziergang, bei der Lektüre oder beim Musik hören geschehen. Und im Großen ist es so, dass wir mitunter im Leben straucheln und stürzen und wenn man dann den Kopf hebt und sich umschaut, hat man schnell den Eindruck, sich neben dieser äußeren Welt zu befinden. Wer hilft einem dann wieder auf die Beine, wenn die Mittel der Familie und Freunde erschöpft sind? Meiner Meinung nach, sind es eben jene Königreiche, auf die wir dann zurückgreifen können, die im Inneren liegen und auf wundersame Weise dafür sorgen, dass wir nicht vor die Hunde gehen. Allerdings kann der Preis dafür die Abwendung von der äußeren Welt sein. Das muss nicht heißen, dass man unbedingt Ekel vor der Welt des Nutzens, des Konsums oder der Verwertbarkeit empfinden muss. Es bleibt aber eine ordentliche Portion Skepsis übrig. Die scheint mir in diesen Tagen recht angebracht zu sein. Der Tod, den man fürchtet, der ist das Leben.
Was für den einen ein Wacholderbusch auf einem Hang in der Rhön ist, dessen Beeren er vielleicht noch mit dem Geschmack von Gin in Verbindung setzt, ist für einen anderen die Seelenheimat seiner Väter (Thomas Bernhard, »Ich weiß, dass in den Büschen die Seelen sind«) und für einen weiteren einfach nur ein Busch.

- Braucht die Welt eine zweite Epoche der Romantik, eine Wiederverzauberung?
- Das wäre schön, ist aber vor allem eine sehr persönliche Sache. Und leider auch zu einfach. Unsere Wahrnehmung von der Welt bzw. unsere Vorstellung eben jener, ist ja von Mensch zu Mensch verschieden. Was für den einen ein Wacholderbusch auf einem Hang in der Rhön ist, dessen Beeren er vielleicht noch mit dem Geschmack von Gin in Verbindung setzt, ist für einen anderen die Seelenheimat seiner Väter (Thomas Bernhard, »Ich weiß, dass in den Büschen die Seelen sind«) und für einen weiteren einfach nur ein Busch. Wenn wir das Namenlose ohne Namen verstehen möchten, sind wir auf uns selbst, auf Überlieferung und Tradition zurückgeworfen. Und dort gibt es ja diverse Brüche. Das ist alles ein zu weites Feld, um es hier in aller Kürze zu skizzieren. In meiner Sicht der Dinge hat die Welt der Postmoderne viel von ihrem Glanz eingebüßt, von dem Zauber, der ihr innewohnte und der durch die Auspreisung ihrer Einzelteile infolge der Industriellen (und übrigens auch der Französischen) Revolution nun zum Verkauf steht. Das soll nicht heißen, dass früher alles besser war. Die Wahrnehmung der Natur und auch die Portalfunktion von Kunst war aber vor gerade mal 130 Jahren deutlich anders. Wie sonst, wäre es zu Sätzen wie: »Wie ruhig ist die Nacht, man möchte glauben, dass sie betet.« gekommen, den sich André Gide um 1890 aus seinen Fingern quetschte?
- Im Zusammenhang mit Lyrik, Dichtung und Kunst fällt mir im Rahmen deiner Veröffentlichungen immer mal wieder der Begriff „Geistersprache“ auf, zuletzt in deinem Artikel über das Figurentheater Wilde & Vogel. Was hat es damit auf sich?
- Nun, die Sprache der Lyrik ist die geheimste Form der Kommunikation. Früher diente sie dazu Götter und Geister anzurufen, Zaubersprüche und Bannformeln zu raunen, aus dem genauen Beobachten von Naturphänomenen Wahrsagerei zu betreiben oder mit dem Übernatürlichen in Verbindung zu treten. Im Laufe der Jahre hat sich dieser primäre Zweck gewandelt und man legte eher seine Gefühle und Wünsche in die Gedichte und Lieder. Heute fällt es naturgemäß schwer, zu begründen, warum es Lyrik in dieser rationalisierten und ökonomisierten Welt überhaupt noch gibt oder geben sollte. Die Theatergruppe »Wilde und Vogel« setzt mit ihrem Figurenspiel genau an diesem Punkt an. Und überlässt es dem Zuschauer, mit seinen Gedanken, in eine der von ihnen erschaffenen Welten (und wieder zurück), zu schlüpfen. Die Bildgewaltigkeit dieser Reiche, die mehr Träume als Stücke sind und die dann im Anschluss liebgewonnenen Diskussionen mit Freunden, wer denn wie welches Schattenspiel oder Geräusch wahrgenommen und gedeutet hat, machen für mich den Reiz dieser wunderbaren Formation aus. Da sind wir wieder ganz bei den unsichtbaren Königreichen.
- Ich persönlich fand das Interview mit dem Fotografen Heikki Willamo sehr interessant. Vor allem die Thematik rund um die Höhlenmalereien und Felsritzungen wusste mich zu begeistern. Liegt der Ursprung unserer heutigen Märchen deiner Meinung nach irgendwo in der von magischen Vorstellungen geprägten Welt der Steinzeit und vor allem in deren Kunst versteckt?
- Das kann man so sehen. Aber natürlich nur schwer begründen. Wenn man sich allerdings die Motive und Kompositionen der Stein- und Bronzezeit anschaut, die es in ganz Europa (und nicht nur dort) gibt, dann kommt man dem Märchenhaften und Unerklärlichen sehr nahe. Der große Aufwand, den die Herstellung dieser Bilder und Geschichten erforderte, lässt uns noch heute eine Ahnung von der Wichtigkeit dieser Petroglyphen für Kult und Ritual der damaligen Völker bekommen. Es brauchte wohl das geschulte Auge eines preisgekrönten Naturfotografen, um uns darauf hinzuweisen, indem er diese Zusammenhänge erkannte und versuchte ihnen ein bisschen auf die Spur zu kommen. Bei den Darstellungen handelt sich ja nicht nur um Tiere oder tierähnliche Wesen, sondern diese Bilder reichen tiefer. Wenn man dann mit diesem Wissen durch die anderen Bücher von Heikki Willamo (ich glaube »The house in the woods« ist das bekannteste) blättert, fällt es schon auf, dass solche Tier-Traumbilder kontinuierlich immer wieder auftauchen. Die Meisen, die ihn in »Skogsåret« begleiten oder die Dachse und Eichhörnchen in »The house in the woods«. Es sind die gleichen Bilder und Botschaften wie vor 5000 oder 10000 Jahren. Das macht einen schon demütig.
- Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit der jungen, sehr talentierten Frieda Rhode von Blätterwald Illustrationen, von der auch der beigelegte Kunstdruck mit Lemmy, Quorthon und Shelton in der heiligen Halle stammt?
- Das ist eigentlich ganz einfach. Frieda ist meine, inzwischen volljährige, Tochter und seit jeher an diesen märchenhaften, abgründigen und seltsamen Themenwelten interessiert. Sie zeichnet und malt seit ihrer frühesten Kindheit gerne und hat über die Jahre hin so etwas wie einen eigenen Stil entwickelt. Und dann gibt es da noch diesen kauzverrückten Vater, der sich eine lebenswerte Wohnung ohne Eulen, Trolle und einen (kleinen) »Quorthon-Lemmy-Mark-Shelton-Schrein« nicht vorstellen kann. So ergänzen sich die Perspektiven. Ich bin sehr stolz auf Frieda als Menschen und auf ihre Bilder. Also scheint zumindest in ihrer Erziehung nicht alles schief gelaufen zu sein.