Warum Schwarzmetaller auch Schubert hören sollten
Wer sich in den dunklen Subkulturen zu Hause fühlt, findet leicht Zugang zur Kunst der romantischen Epoche. Ein Werk, das auch der Black Metaller und Neofolk-Fan von heute kennen sollte, ist die »Winterreise«, ein Liederzyklus von Franz Schubert und Wilhelm Müller. Denn sie transportiert ein Gefühl der Entfremdung, das Subkultur-Gängern bekannt vorkommen dürfte.
Von Nico Schwappacher
Der Schnee hüllt das Land in weiße Matten. Kaum noch sichtbar ist darunter der Weg, der vom Haus und seinen schlafenden Bewohnern hinfort ins Freie führt. Mit der Winternacht kam Dunkelheit, eisig und trüb, über Wälder und Wiesen, Dächer und Herzen. Ein junger Bursche huscht hinaus, schließt sacht die Tür und zögert nicht länger. Vor ihm in der von Flocken wild durchtanzten Schwärze liegen unbekannte Pfade. Hinter dem Flüchtenden pfeift der Wind in der Wetterfahne, als sänge er ihm ein Spottlied. Und der Frühling? Ist nur noch eine Erinnerung, ein Traum.
Der Wanderer, den der romantische Dichter Wilhelm Müller in seinem Zyklus »Die Winterreise« auf Schusters Rappen durch die Kälte schickt, ist ein Fremdling. Entfremdet von seiner Geliebten, kann er in deren Elternhaus nicht einen Moment mehr bleiben. Er muss loslassen, sich selbst einen neuen Weg weisen. Deshalb zieht es ihn hinaus in die Natur, die in ihrer unwirtlichen Erstarrung seinem Seelenleben zu entsprechen scheint. Doch so wie das Wasser unter der Eisschicht eines zugefrorenen Baches stets weiterfließt, so brennen schmerzhafte Erinnerungen und Einsamkeit dem Suchenden auf dem Gemüt. Je länger der junge Mann geht, desto tiefgreifender entfremdet er sich von der Gesellschaft. Todessehnsucht keimt in ihm auf. Sein Sinn für die Realität schwindet.
Franz Schubert hatte seine Freunde vorgewarnt, bevor er ihnen im Jahr 1827 seine Vertonung der müller’schen Winterlieder im kleinen Kreis vorspielte: Einen »Zyklus schauerlicher Lieder« wolle er präsentieren – und hielt Wort. Kränklich, geradezu depressiv soll Schubert zu dieser Zeit gewesen sein. Wenig mehr als ein Jahr trennte ihn da noch von seinem Dahinscheiden im Alter von 31 Jahren. Josef von Spaun, ein Weggefährte des Wiener Romantikers, wird sich später an den Abend erinnern: »Wir waren über die düstere Stimmung dieser Lieder ganz verblüfft.« Schubert hielt seinen erschütterten Freunden entgegen: »Mir gefallen diese Lieder mehr als alle und sie werden euch auch noch gefallen.«

Tatsächlich finden die 24 Kunstlieder für Klavier und Stimme heute mehr Anklang denn je. Noch immer gehört der Zyklus zu den am häufigsten aufgeführten musikalischen Werken der Romantik. Jahr für Jahr kommen neue Einspielungen und Bearbeitungen der »Winterreise« auf den Markt. Auch wer seine musikalische Heimat in den dunkel-alternativen Subkulturen von heute, im Black Metal oder im Neofolk etwa, verortet, tut gut daran, sich zumindest eine davon ins Regal zu stellen.
Denn er wird in sich selbst den Winterwanderer erkennen. Sie wird ihm bekannt vorkommen, die Sehnsucht nach Elysium in der Absenz. Er wird ihn in sich selbst finden, den Drang nach Abkehr von einer Mehrheitsgesellschaft, deren Handeln oft auf als verlogen und oberflächlich empfundenen Beweggründen fußt. So wird die Natur zur Projektionsfläche für innerste Wünsche, für manchen auch zu einer realen Gefährtin, einem Zufluchtsort; obgleich hier freilich eine idealisierte, nicht kapitalistischen Zwängen unterworfene Natur gemeint ist. Nicht vom durchrationalisierten Nutzwald ist die Rede, nicht vom intensiv bewirtschafteten Acker, sondern von Forst und Flur als verwunschenen Heiligtümern, geweiht all dem, das im profanen Alltag zu kurz kommt: Schönheit, Ruhe, Kontemplation, Ursprünglichkeit, Ganzheitlichkeit, Unberechenbarkeit – und zugleich Beständigkeit im Wandel.
Die Natur wird es sein, die noch immer lebt, wenn der Mensch nur mehr eine Randnotiz in der Geschichte unserer Erde ist.
Nico Schwappacher
Die Natur wird es sein, die noch immer lebt, wenn der Mensch nur mehr eine Randnotiz in der Geschichte unserer Erde ist. Und wandelt sie ihr Antlitz im Wechsel von Frühling zu Sommer zu Herbst zu Winter, erkennt der Mensch darin den vorgezeichneten Lauf seines eigenen Lebens. Heranwachsen, blühen, welken, sterben. Das spendet Demut – und dem, der sich in naturmystische Kunst versenkt, sei es nur vor der Stereoanlage, wohlige Schauer. All das hat die Kunst der Romantik mit vielen Werken, die sich in die Schnittmenge von Black Metal und Neofolk einordnen lassen, auch über die »Winterreise« hinaus gemein.
Wer das verstehen möchte, muss einen Exkurs in die Vergangenheit wagen. Im 17. Jahrhundert verdrängen die Aufklärer das Irrationale immer weiter aus dem Leben der Menschen. Die Wissenschaft macht rasante Fortschritte, die Welt wird erklärbar. Der Fels ist kein versteinerter Riese, der Bilmesschneider keine zulässige Erklärung für Missernten mehr. Nicht mehr die Drud macht die Albträume. Sie haben ausgedient, die alten Spuk- und Sagengestalten. Zugleich ändern sich die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen radikal. Um 1815 beginnt in Deutschland die industrielle Revolution. Die Menschen zieht es in die Städte. Einstige Bauern, die zuvor ihren Lebensunterhalt den Feldern und dem Vieh abrungen, stehen schon bald hinter dampfbetriebenen Webstühlen, schuften in Bergwerken oder bauen Eisenbahnstrecken, die plötzlich nahe zusammenrücken lassen, was zuvor ganz weit entfernt erschien. Doch das neue Wissen und die neue Freiheit haben ihren Preis: Sie lassen die Seelen frieren.
Auch empfindsame Künstler und Gelehrte beginnen, sich vom bedingungslosen Fortschrittsdenken und der reinen Vernunft abzuwenden – und stattdessen eine Wiederverzauberung der Welt anzustreben. »Die Welt muss romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder«, forderte etwa der Dichter Novalis. »Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.« Nur folgerichtig also, dass die Romantiker sich in Kunst und Philosphie der Leidenschaft der Seele, aber auch dem Irrationalen, Nebulösen, Schattenhaften zuwenden. Die Sehnsucht – bisweilen auch die nach dem Tod -, der Traum, eine idealisierte Vergangenheit und die Heimat sind nun beliebte Themen. Schriftsteller greifen alte Sagen und Erzählungen auf. Das Wandern, die Natur und die Nacht treten als Motive immer wieder in Erscheinung.
Wer in der dunklen Subkultur nach inhaltlich und konzeptionell Ähnlichem sucht, wird schnell fündig. Aus den Reihen der frühen Black-Metal-Klassiker kommt Ulvers Debüt »Bergtatt« (1995) in den Sinn.
Nico Schwappacher
Insofern ist auch die »Winterreise« ganz Kind ihrer Zeit, wenn Wilhelm Müller seinen Suchenden auf Wanderschaft hinausschickt in die Winternacht; wenn ihm dabei die Natur zur Begleiterin wird; wenn er sich mitten im Schneesturm in ruhige Tage unter einem Lindenbaum zurückträumt; wenn ihm eine Krähe wie eine Todesbotin erscheint; wenn ein Irrlicht ihn vom Weg lockt; wenn ihm ein Friedhof vorkommt wie ein einladendes Wirtshaus. Und noch weitere Charakteristika der Romantik zeigen sich in der »Winterreise«: Zum einen das Bestreben, verschiedene Kunstformen, in diesem Fall Musik und Literatur, zu verbinden. Zum anderen der Hang zum Gesamtkonzept. 24 Lieder sind hier zusammengefasst zu einem Zyklus, der in losen Episoden von der Entwicklung und den Erlebnissen seines Protagonisten erzählt. Heute würde man von einem Konzeptalbum sprechen.
Wer in der dunklen Subkultur nach inhaltlich und konzeptionell Ähnlichem sucht, wird schnell fündig. Aus den Reihen der frühen Black-Metal-Klassiker kommt Ulvers Debüt »Bergtatt« (1995) in den Sinn. Schon das Cover-Artwork mit bewaldetem Berghang unter wolkenschwerem Himmel beschwört ein tief romantisches Grundgefühl herauf, das Musik und Inhalt schließlich einlösen. Auf klirrende E‑Gitarren-Eisstürme folgen entrückte Intermezzi auf der Akustischen, die sich im Kontrast ausnehmen wie eine geisterhaft plötzliche Rückkehr tiefer Waldesstille. In solch knorriger Klangkulisse erzählen die Norweger in fünf Kapiteln die Geschichte eines Mädchens, das sich im Wald verirrt, und – von Trollen in die Berge gelockt – auf ewig verschwindet.
Der offensichtlichste Bezug zur Gattung des romantischen Lieds im Stil der »Winterreise« tritt auf Empyriums rein akustisch instrumentiertem Konzeptwerk »Weiland« (2002) zutage, das in den drei Kapiteln »Heidestimmung«, »Waldpoesie« und »Wassergeister« unterschiedliche Motive der Naturromantik behandelt. Texter Markus Stock (alias Ulf Theodor Schwadorf) nähert sich hier – erstmals in deutscher Sprache dichtend – neben zahlreichen Anklängen an Joseph Freiherr von Eichendorffs bildreich schwärmende Naturlyrik dem Ton Wilhelm Müllers an, wenn er den Protagonisten der »Heidestimmung« auf eine fatale nächtliche Irrfahrt schickt. In »Fortgang« etwa sind folgende Zeilen zu hören:
»Welch gramvoll Pein
verwies mich meinen Pfaden,
als morgendunstge Schwaden
noch ruhten im verschneiten Hain?«
In der »Winterreise«, genauer: im Lied »Der Wegweiser«, lässt Müller seinen Wanderer fragen:
»Was vermeid‹ ich denn die Wege,
wo die ander’n Wand’rer geh’n,
suche mir versteckte Stege,
durch verschneite Felsenhöh’n?«
Der klassisch ausgebildete Sänger Thomas Helm reicht in seinem Vortrag auf »Weiland« beinahe an die emotionale Intimität und Innerlichkeit eines erfahrenen Lied-Interpreten heran. »Das blau-kristallne Kämmerlein«, der letzte Titel des Kapitels »Wassergeister«, ist gar eine recht eindeutige Müller-Referenz. Die bezieht sich jedoch nicht auf die »Winterreise«, sondern auf Müllers anderen, ebenfalls von Schubert vertonten Gedichtzyklus »Die schöne Müllerin«. Hier ist es ein Müllersgeselle, der sich auf Wanderschaft begibt. Auf seinem Weg entlang an einem Bachlauf verliebt sich der junge Mann unsterblich in eine bildhübsche Müllerstochter. Die jedoch entscheidet sich für ihre Liebe zu einem Jäger. Der tief verletzte Schwärmer findet im Bach den Freitod. In »Des Baches Wiegenlied« dichtet Müller:
»Gute Ruh’, gute Ruh’!
Tu’ die Augen zu!
Wandrer, du müder, du bist zu Haus.
Die Treu’ ist hier,
Sollst liegen bei mir,
Bis das Meer will trinken die Bächlein aus.
Will betten dich kühl,
Auf weichen Pfühl,
In dem blauen krystallenen Kämmerlein.
Heran, heran,
Was wiegen kann,
Woget und wieget den Knaben mir ein!«
Markus Stock schreibt auf »Weiland« über eine gefrorene Kaskade:
»Wo schmerzlich Zeit musst heftig wogen,
da thronet ein erfrorner Bogen.
Stille bereitet sich endlich an,
müden Wandrern zart zu nahn.
Kein Lichtstrahl trifft die Schatten hier hinein,
ins blau-kristallne Kämmerlein.«
Weniger auf die Naturmystik per se sondern vielmehr auf das menschliche Innenleben und die gedankliche Reflexion des Seins fokussiert sich ein anderer »Black-Metal-Liederzyklus«: Dornenreichs »Her von welken Nächten« (2001).
Nico Schwappacher
Weniger auf die Naturmystik per se sondern vielmehr auf das menschliche Innenleben und die gedankliche Reflexion des Seins fokussiert sich ein anderer »Black-Metal-Liederzyklus«: Dornenreichs »Her von welken Nächten« (2001). Hier findet sich ein Individuum inmitten eines Waldnachtszenarios wieder, um zu Selbsterkenntnis und geistiger Reife zu gelangen, um sich in Einsamkeit selbst einen Weg zu weisen – wie der Winterwanderer. Die Nacht bietet diesen Prozessen einen Raum, fernab von den grellen Reizen des Tages: »Mir wallt die Nacht als Schutz herab, vor Tages grobem Blenden, das weiter in die Irre zerrt, mein Selbstsein zu beenden«, heißt es im Song »Ich bin aus mir«. Die neun Lieder enden mit dem Tod des Protagonisten, der zuvor zu seiner kindlichen Leichtigkeit zurückgefunden hat.
Müllers Winterwanderer bleibt solcher Frieden verwehrt. Findet auch er den Tod? Niemand weiß das. Einmal mehr lässt der Suchende das Dorf hinter sich. Doch ehe er wieder in die Einsamkeit entfliehen kann, trifft der Ausgestoßene auf einen Leiermann, der das Schicksal des Burschen teilt. Barfuß wankt der wunderliche Alte auf dem Eis hin und her. Er dreht seine Leier, doch keiner hört ihn an. Die Hunde der Siedlung knurren bei seinem Anblick. Und er leiert. Und leiert. Und leiert. Im Klavier formt Schubert die schmerzliche Wiederkehr des ewig Gleichen durch sich stets wiederholende Bass-Quinten nach.
Vielleicht ist der Leiermann tatsächlich der Schnitter im Bettlergewand. Vielleicht ist der ewig an seinem Kasten drehende Alte ein Sinnbild für die Sinnlosigkeit eines sich stets um den eigenen Schmerz windenden Lebensganges, ein imaginiertes Spiegelbild des resignierten Winterwanderers also, eine Stellvertreterfigur. Oder aber Müllers Protagonist meint etwas ganz Anderes, wenn er fragt: »Wunderlicher Alter, soll ich mit dir gehn? Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn?«. Vielleicht ist der grimmige Leiermann eine Metapher für die Kunst als Lösung, als vor den Zwängen und Konventionen der Mehrheitsgesellschaft sicherer Zufluchtsort. Als letzte Enklave, in der noch Zauber wirkt, inmitten einer prosaischen Welt. Als einziges Mittel, das den Seelenwinter erträglich macht.