Mythologischer & Kunsthistorischer Ursprung eines uralten Symbols
Die nackte Hexe und der wilde Ziegenbock, die durch die Lüfte fahren – auf den ersten Blick ein durch und durch satanisches Motiv…
…oder etwa doch nicht? Dieses archetypische Duo scheint den Sprung durch die Zeiten in die Welt der düsteren Subkultur mit Bravour gemeistert zu haben. Ob als Tattoo, als Patch oder Pin, als Coverartwork oder als Shirtmotiv, Hexe und Bock werden dabei in ihrer vital wirkenden Bildsprache immer als Synonym für archaische Zauberei und mittelalterlichen Mystizismus gelesen, zuweilen auch als Symbol heidnischer Emanzipation von den Konventionen starrer religiöser Systeme gedeutet.
Dabei begleitet uns das Bild der Zauberkundigen und ihrem gehörnten Begleiter nicht erst seit Albrecht Dürers Werk Die Hexe, das der alte Meister im frühen 16. Jahrhundert fertigte, und damit die bis heute bekannteste Version des Motivs schuf. Vielmehr schöpfte auch Dürer seine Inspiration für Die Hexe aus Quellen, die wesentlich tiefer liegen, als es uns eine rein oberflächliche Betrachtung des Kupferstiches suggerieren mag.
Verfolgen wir also die reitende Hexe soweit wir es vermögen, widmen uns dabei dem Symbolismus Dürers, der sich jeder Deutung nebulös zu entziehen scheint, und knüpfen schließlich an das Wesen von archaischen Muttergöttinnen an, die versteckt in dieser Allegorie auf Erotik, Fruchtbarkeit, Tod und Astronomie auf ihre Entdeckung warten.

Dürers Die Hexe: Das Vorbild zeitgenössischer Darstellungen und seine Wurzeln
Die erste Spur führt in das frühe 16. Jahrhundert, genauer gesagt in die Jahre zwischen 1502 und 15051. Während dieser Zeit entstand Albrecht Dürers Kupferstich Die Hexe, welcher als das Vorbild aller aktuellen Darstellungen der reitenden Hexe gewertet werden kann. Die ganze Renaissance hindurch inspirierte das geheimnisvolle Werk Dürers dessen Zeitgenossen und auch seinen Schüler Hans Baldung Grien zu mitunter nicht weniger fantasievollen und mystischen Kompositionen.
Um die Symbolik des »modernen« Ur-Werkes besser verstehen zu können, muss man sich zunächst mit möglichen Deutungen im Kontext der Lebenswelt Dürers beschäftigen. Ein Unterfangen, das sich ebenso kompliziert ausnimmt, wie die zutiefst widersprüchlichen philosophischen Strömungen der Renaissance selbst. Als der Kupferstich angefertigt wurde, lag die hysterische Hochphase der Hexenverfolgung noch beinahe 60 Jahre in der Zukunft, eine stumpf propagandistische Deutung des Werkes mit hetzerischer Intention kann also zunächst mit Bestimmtheit zurückgewiesen werden, dem entgegen stehen auch Dürers humanistische Ansichten†. Wohl aber kann man den Künstler einen Mystiker nennen, der es verstand kosmologische, religiöse, kulturelle und soziale Themen seiner Zeit in Symbole zu kleiden und sie in Bilder zu transformieren, die uns auch heute noch Rätsel aufgeben und zur Diskussion anregen.
Hexen durften wohl nackt dargestellt werden, da sie ja das Sündige repräsentierten. Offensichtlich erfreute sich die Männerwelt an dieser Art der Abbildung. Dürers Vier Hexen fand reißenden Absatz.
Johannes Schiffelholz
Ein kulturelles Kennzeichen seiner Zeit war jedoch unbestritten – die Assoziation der menschlichen Sexualität mit Unsittlichkeit und Scham als direkte Folge der Erbsünde. Diese aus dem Mittelalter übernommene Sexualmoral kollidierte, zumindest in der Kunst der Renaissance, im 16. Jahrhundert mit den Darstellungen nackter Körper3 als Folge einer Beschäftigung mit antiken Ideen und Götterepen4. Das Bild der nackten Hexe hat der Künstler allerdings nicht aus dem Mittelalter übernommen, denn Darstellungen unbekleideter Druden sind vor 1500 rar gesät5. Ob Dürer mit dem Einbinden okkulter Elemente in seinen Aktzeichnungen das Darstellen entblößter Körper, vor einer an sich prüden Gesellschaft, legitimieren wollte ist bis heute allerdings strittig6. Wie wir später noch feststellen werden, liegt eine Deutung hinsichtlich sexueller Bezüge nicht fern. Das Thema Fruchtbarkeit und Erotik zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des Symbols des reitenden Hexenweibs.
Sozial und Sittenmoralische Deutung
Die gängigste Deutungen des Werkes Die Hexe, im Hinblick auf sexuelle und soziale Moralvorstellungen des 16.Jahrhunderts, habe ich folgend zusammengefasst.





Der Mantel
Pate für den Mantel könnte eine kleine Statue im Münster von Freiburg gestanden haben. Diese Darstellung einer unbekleideten Frau, die die Sünde verkörpern soll, trägt einen Mantel aus Ziegenfell, der nicht verhüllt sondern nur umgelegt ist. Auch hier begegnet uns schon die Verbindung zwischen Sünde, Ziege und Sexualität.
Fliegendes Haar
Haar wird oft mit Kraft und Sexualität assoziiert, das wild fliegende Haar könnte ein Ausdruck für ungezügeltes weibliches Verlangen oder aber auch für »unkeusch« ausgelebtes Sexualleben sein.
Rückwärts reiten
Das Umkehren eines normalen Vorgangs wie des Reitens, ist im 16. Jahrhundert ein verbreitetes Symbol für eine verkehrte (geschlechtliche) Welt, in Verbindung mit der Ziege als Reittier könnte das rückwärts gewandte Reiten ein Symbol für die befürchtete sexuelle Dominanz der Frau gegenüber dem Mann sein.
Der Griff an das Horn
Jemandem Hörner aufsetzen, bedeutet auch heute noch Untreue. Zu Zeiten Dürers verlor ein Mann seine Ehre, wenn er anderen Männern, ganz wie ein geiler Ziegenbock, »Zugang« zu seiner Partnerin gewährte. Eventuell wird hier weibliche Selbstbestimmung und sexuelle Unabhängigkeit dargestellt.
Die Putten
Die Rolle der Putten ist noch schwerer zu deuten als die restlichen Symbole. Einmal sollen sie die 4 Jahreszeiten darstellen, die durch Wetterzauber in Unordnung geraten sind, ein andermal sollen sie im Kontrast zur Hexe die Jugend und Unschuld darstellen.
Die Spindel
In antiken Darstellungen trägt die Hexe, als Beispiel kann Hekate angeführt werden, als Attribut oft eine Fackel, welche als das Licht der Weisheit gedeutet werden kann. In Dürers Fall ist das Attribut eine Spindel, was entweder, wie später bei Baldung Grien, im Zusammenhang mit dem Weben des Schicksalsfadens durch die Nornen gedeutet werden könnte, oder aber im Kontext mit den anderen bereits angeführten Symbolen. wiederum sexuell gewertet werden kann. Die Spindel, ein damals rein weiblich belegtes Werkzeug »entwächst« dem Schoß der alten Frau wie ein Phallus. Auch hier könnte eine befürchtete Umkehr sozialer Normen und Werte über die Sexualität eine Rolle gespielt haben.
Die antiken Vorbilder von Dürers Die Hexe: Die Italienreise des Künstlers bringt alte Göttinnen auf den Plan
Dürers Welt war, wie wir bereits erfahren konnten, gekennzeichnet von der schwärmerischen Begeisterung für die Antike. Und auch der Maler unternahm mindestens eine Fahrt nach Italien, genauer gesagt nach Rom.
article/die-ziegenreiterin-hexe-gottin-erdmutter/Ein unermesslicher Schatz an Ideen, Symbolen und Geschichten muss sich für den Künstler auf seinen Reisen in die Länder des Südens aufgetan haben, als er mehr über Circe, Diana, Hekate Medea und Aphrodite an ihren einstigen Kultstätten in Erfahrung bringen konnte. Einen ganz besonderen Einfluss auf die Entstehung des berühmten Kupferstichs scheint allerdings eine Darstellung der Aphrodite Epitragia gehabt zu haben, deren Original zwar verschollen scheint, von der sich aber dennoch unzählige Darstellungen im ganzen Mittelmeerraum erhalten haben. Dürer muss diese Darstellung gekannt haben, denn es zeigen sich eindeutige Parallelen zwischen dem Werk des Künstlers und dem altertümlichen Vorbild.
Aphrodite Epitragia – Die Liebesgöttin des einfachen Volkes reitet die Ziege
Vermutlich liegt dem Kunstwerk des berühmten Nürnbergers eine Darstellung des antiken Bildhauers Skopas zugrunde, der die Aphrodite Epitragia (7) im 4. Jahrhundert vor Christus als Kupferplastik schuf. Dem Reiseschriftsteller und Geografen Pausanias zufolge, fertigte Skopas das Standbild für den Tempel der Aphrodite in der Stadt Elis an. Dort fungierte die Plastik, der auf einer Ziege reitenden, Aphrodite als Gegenstück zur Aphrodite Urania (8).
Unterschiede zwischen den beiden Inkarnationen Aphrodites, Urania und Epitragia, zeigen sich unter anderem schon bei der Wahl des Reittiers in der Ikonographie. Die Archäologin Ursula Knigge führt an, dass Urania auf einem Schwan reite und dem Morgenstern zugeordnet werden könne, Epitragia dagegen reite eine Ziege und wäre dem Abendstern verpflichtet. Während Aphrodite Urania für die Definition einer Liebe steht, die mehr spirituell zu begreifen ist und göttliche Sphären berührt, so ist die Epitragia für die Formen der Liebe zuständig, die weniger die Bedürfnisse der Seele sondern mehr die Bedürfnisse des Körpers befriedigt. Auch hier sehen wir das Symboltier der Ziege schon als Synonym für Sexualität, eine Assoziation, die sich bis heute erhalten hat und vermutlich von der christlichen Kirche im Laufe der Zeit, entsprechend spröder Moralvorstellungen, dämonisiert wurde.
Entsprechend lustbetont muss sich wohl auch der Kult der Aphrodite gestaltet haben (9). Die Aphrodisien etwa, private Feiern zu Ehren der Liebesgöttin, sollen eher orgiastischer Natur gewesen sein. Auch ein verborgener Mysterienkult ist aufgrund des privaten Charakters nicht auszuschließen. Die vielzitierte Tempelprostitution hingegen hat in der Verehrung der Göttin, neueren Erkenntnissen nach, wohl keine Rolle gespielt und ist eher im Reich der Phantasie zu verorten.
Auf Kreta, im Heiligtum von Syme zum Beispiel, lässt sich eine dauerhafte kultische Verehrung der Aphrodite, in ihrer Funktion als Göttin der Erotik und Fruchtbarkeit, bis in das Jahr 2000 vor Christus durch die Auswertung archäologischer Funde nachweisen. Allerdings scheint sich hier das Motiv der, auf der Ziege reitenden, Göttin in den Jahrhunderten zu verlieren, Götterfigur und Tier gehen getrennte Wege, die Tiere werden aber oft in begleitender Funktion dargestellt. Untrennbar mit dem Dienst an den Göttern verbunden bleibt die Ziege dennoch. Als frühestes, von der Menschheit in der Jungsteinzeit, domestiziertes Herdentier nimmt sie einen wichtigen Platz im Opferritus vieler Kulturen ein. So gibt es auch im Kult der griechischen Aphrodite Belege für das Ziegenopfer an die Göttin. So sollen ihr weiße, männliche Zicklein als Geschenk dargebracht worden sein und zahlreiche Geschichten aus der griechischen Mythologie erwähnen die Ziege als Opfertier (10).



Von der Potnia Theron – Die Herrin der wilden Tiere bis zur großen Göttin
So schwammig die Spur hier auch wird, finden sich doch noch konkrete bildliche Darstellungen aus der ägäischen Kultikonographie, die weibliche Gottheit und Tier in Einklang bringen. Aus der früheisenzeitlichen Epoche bzw. der Bronzezeit des Mittelmeerraumes ist uns das gut belegte Bild der »Herrin der Tiere« überliefert. Ich persönlich gehe davon aus, dass die Urmutter unserer reitenden Hexe wohl irgendwo in der Figur der Potnia Theron steckt, der Herrin der wilden Tiere, die es versteht die Geschöpfe der Wildnis ohne Gewalt und nur durch göttliche Präsenz in ihren Bann zu ziehen.
Erstmals tritt diese im 3. Jahrtausend v. Chr. im minoischen Kreta in Erscheinung. Nachdem sie lange, vor allem in archaischer Zeit, als »Herrin der Tiere« verehrt wurde und sich großer Beliebtheit erfreute, ging sie Stück für Stück im Pantheon römischer Göttinnen auf und wurde schließlich nur noch mit diesen assoziiert, wobei ihre eigentliche Person vollkommen in Vergessenheit geriet. Besonders in Aphrodite, Demeter, Hekate, Artemis, Kore und Eileithya lebte ihr Kultus fort. Die Urform der Potnia Theron ist nicht als einzelne Gottheit zu begreifen, sondern mehr als ein Schema für verschiedene, auch lokale Göttinnen, mit der selben Funktion. Die Potnia Theron ist die Bezwingerin des Todes, die Beschützerin der wilden Tiere, der Natur und der Fruchtbarkeit. Damit steht sie einer Linie orientalischer Göttinnen wie Ishtar und Astarte nahe, die als Muttergöttinnen fungieren (11).
Nach K. Schuhmann, deren Magisterarbeit Die Schöne und die Biester — Die Herrin der Tiere im bronzezeitlichen und früheisenzeitlichen Griechenland, ich diese Informationen entnommen habe, ist die Potnia Theron die Verkörperung der Anbetung der Erde selbst, Ausdruck eines spirituellen Anspruchs, der sich seit der Frühzeit der Menschheit durch unser Gotteserleben zieht.
Mit meinen Recherchen bin ich also ausgehend von Nikosidios zeitgenössischer Darstellung über Dürers Kupferstich Die Hexe aus dem 15. Jahrhundert, über Skopas Bronzeplastik der Aphrodite Epitragia aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. bis zur Herrin der Tiere im 3. Jahrtausend vor Christus gereist. Unsere Hexe ist scheinbar einen weiten Weg geritten, von der vielverehrten Erdgöttin der frühen Menschheit, zur griechischen Aphrodite, bis hin zur lasterhaft sündigen Hexe und hinein in die dunkle Popkultur.
Referenzen & Quellenangabe
- Zum Problem: Dürer und die Antike, Charmian Mesenzeva, Zeitschrift für Kunstgeschichte, 46. Jahrgang (1983), Heft 2, Seite 187 – 202.
- The Witches of Dürer and Hans Baldung Grien, Margaret A. Sullivan, Renaissance Quarterly.
Ein Versuch die Bilder beider Künstler von dem Vorwurf zu befreien, direkt oder indirekt zu der hysterischen Jagd auf Hexen und Hexer beigetragen zu haben. Margaret A. Sullivan untersucht die Bilder mit Hexenthematik unter humanistischen Gesichtspunkten. - Bereits 1497 sorgte Dürer mit seinem Werk Die Vier Frauen, welches ähnlich schwer zu deuten scheint wie Die Hexe, für offene Münder bei seinen Zeitgenossen. Der Künstler griff hier auf das pralle Leben zurück, überwand die puppenartigen Darstellungen der Gotik, und zeichnete den ersten realistischen Akt der Kunstgeschichte.
- Geschichte der Frauen, Georges Duby und Michelle Perrot, von https://arsfemina.de/buch/geschichte-der-frauen, aufgerufen am 03.10.2019.
- The Witches of Dürer and Hans Baldung Grien, Margaret A. Sullivan, Renaissance Quarterly, Seite 354.
Die Autorin legt anhand verschiedener Beispiele aus der Kunst vor 1500 dar, dass Nacktheit und Hexentum erst mit Dürer eine Fusion in der Kunst eingingen. Entsprechende Zeichnungen aus dem Mittelalter vor 1500 die nackte Frauen, die auf Tieren reiten, zum Inhalt haben, sind zumeist nur mit Sexualität assoziiert und bergen darüberhinaus keine Anhaltspunkte für okkulte Sachverhalte. - Künstler, die erotische Sujets und Akte bedienten, legitimierten die beabsichtigte erotische Wirkung vor der Kirche oft mit der Verbindung zum gruselig übernatürlichen. Hexen durften wohl nackt dargestellt werden, da sie ja das Sündige repräsentierten. Offensichtlich erfreute sich die Männerwelt an dieser Art der Abbildung. Dürers Vier Hexen fand reißenden Absatz.
- Epitragia meint Auf oder bei einem Bock. Schon Aristoteles bescheinigt dem Sexualverhalten junger Männer etwas, dass an die sprichwörtliche Triebhaftigkeit von Ziegenböcken erinnert. Junge Männer wurden dementsprechend auch gelegentlich als tragoi, also Böcke, bezeichnet. (Quelle: Wikipedia Eintrag Die Hausziege)
- Zum Problem: Dürer und die Antike, Charmian Mesenzeva, Zeitschrift für Kunstgeschichte, 46. Jahrgang (1983), Heft 2, Seite 187 – 202.
Urania bezeichnet »die Himmlische« und verweist auf ihre Herkunft. Uranus, der Herr des Himmels, ist der Legende nach der Vater der Aphrodite. Ihre Geburt hat sie allerdings auch einem Akt der Gewalt zu verdanken. Kronos, Sohn von Uranus und Gaia tötet den Vater, verstümmelt ihn und wirft dessen Glied ins Meer. Aus dessen Blut und Samen entsteht Aphrodite, die »Schaumgeborene«. - Aphrodite war nicht nur Liebesgöttin, sondern vereinte auch noch andere Aspekte in sich. So hatte sie auch eine blutrünstige, kriegerische und mörderische Seite, die im Kult wohl ebenfalls eine Rolle gespielt haben muss.
- Zum Adonisfest, Carl Watzinger. Aus Antike Plastik, Seite 261 – 266, De Gruyter Verlag, 1928.
- Magisterarbeit Die Schöne und die Biester — Die Herrin der Tiere im bronzezeitlichen und früheisenzeitlichen Griechenland, Kirstin Schuhmann, 2009