Warum ist gerade diese Figur so faszinierend? Als ich mich auf Spurensuche begab, wurde mir bald klar, welches Geheimnis sie birgt…
Insbesondere im Herbst und zur Weihnachtszeit zieht es die Menschen in das Reich der Sagen, Mythen und Märchen. Dabei ist es egal, ob man sie selbst liest, vorliest oder als Film schaut. Fakt ist, dass viele Menschen in irgendeiner Form Zeit mit Märchen verbringen. Warum faszinieren uns eigentlich diese alten Geschichten, deren erzählerischer Verlauf doch für uns „moderne“ Menschen eigentlich sehr vorhersehbar ist?
Nun, ein möglicher Grund ist, dass auch trotz einiger kinderfreundlicher Anpassungen unter der Oberfläche bis heute ein Raunen zu vernehmen ist, das sehr tiefe Schichten der Seele anspricht. Vielleicht ohne es so auszubuchstabieren, merken wir, dass in den Märchen die Grundvorstellungen unserer Vorfahren durch die Jahrhunderte oder auch Jahrtausende zu uns sprechen. Die meisten Menschen haben mit ihrer Familie einen mehr oder minder umfangreichen Märchenkanon, der einfach in diese Zeit gehört. Bei uns gehört der russische Klassiker „Abenteuer im Zauberwald“ in diesen Kanon, dessen Handlung mehrere Märchen miteinander vermischt. Hier spielt die Hexe Baba Jaga eine zentrale Rolle, die in einer hühnerbeinigen Hütte tief im verschneiten Wald lebt. Warum ist gerade diese Figur so faszinierend? Als ich mich auf Spurensuche begab, wurde mir bald klar, welches Geheimnis sie birgt…
Aus den Tiefen slawischer Wälder
Die Baba Jaga ist von äußerst hässlicher Gestalt: Haare wie Spinnweben, eiserne Zähne, knorrige bis knochige Gliedmaßen, triefende Augen, eine große krumme Nase – wer denkt da nicht an die mitteleuropäische Hexe?
Baba Jaga ist eine Gestalt, die immer wieder in der gesamten slawischen Mythologie auftaucht. Wieviele Jahrhunderte das schon der Fall ist, lässt sich so genau gar nicht sagen – feststeht, dass sie eine zentrale Stellung im osteuropäischen Sagenkosmos hat. Egal, ob in tschechischen, russischen, kroatischen oder polnischen Märchen: überall hat sie ihren Auftritt. Naturgemäß gibt es immer wieder Variationen, aber viele Merkmale sind doch konstant. Die Baba Jaga ist von äußerst hässlicher Gestalt: Haare wie Spinnweben, eiserne Zähne, knorrige bis knochige Gliedmaßen, triefende Augen, eine große krumme Nase – wer denkt da nicht an die mitteleuropäische Hexe? Kein Wunder, dass sie als mächtige Zauberin gilt. Sie lebt in einer Hütte tief im Wald, die auf Beinen steht und den Eingang stets verbirgt. Nur ein Zauberspruch kann die Tür öffnen. Interessanterweise erinnert diese Beschreibung an die Hütten der Samen. Die Samen sind ein indigenes Volk, das bis heute von Nordschweden über Finnland bis zur Barentssee in Russland siedelt. Die Samen galten als ausgesprochen zauberkundiges Volk, in dem beispielsweise Schamanen eine hohe gesellschaftliche Stellung besaßen.
In einigen Mythologien kann sie mit dieser Hütte überall hin reisen, in anderen ist ihr Bewegungsradius durch natürliche Grenzen wie Flüsse oder Gebirgsketten begrenzt. Wieder andere Sagen erzählen davon, dass die Baba Jaga sich gar nicht sehr vom Fleck bewegen kann, da ihre große Zauberkraft an ihre Heimaterde gebunden ist. Würde sie sich von diesem Ort entfernen, würde sie diese Fähigkeit verlieren. Eine sehr interessante Erzählung ist, dass die Baba Jaga entweder an vielen Orten gleichzeitig auftauchen kann – oder es gar mehrere gibt. Gemeinsam ist aber allen Sagen, dass sie als mächtige Zauberin tief im Wald lebt.

Gefahr für Naive, Helferin für die Ehrlichen
Möchte man aber auf die mächtige Alte treffen? Davor sollte man sich hüten. Sie holt die Toten zu sich – aber nicht nur die, für die das Schicksal bestimmt hat, dass ihre Zeit gekommen ist. Die Baba Jaga sucht auch aus eigenem Antrieb nach Opfern – schließlich verspeist sie Menschenfleisch. Als Warnung stehen vor ihrer Hütte die aufgespießten Schädel derer, die in ihre Fänge gerieten.
Mitnichten ist die alte Baba Jaga aber ein rein „böses“ Wesen – eine Einteilung, die in vorchristlichen Erzählungen sowieso selten in dem Maße stattfand. Wer ihr ehrlichen Herzens gegenüber tritt, über das grässliche Erscheinungsbild hinwegsieht und sie mit Höflichkeit behandelt, dem hilft sie sogar. Im Märchen „Die Froschprinzessin“ hilft sie dem Prinzen beispielsweise, seine Geliebte aus der Hand des finsteren Zauberers Koschtschei zu befreien.
Archetyp & Totengöttin – mehr als eine Hexe
Vielmehr spricht einiges dafür, dass wir es mit einer, durch die Christianisierung erzählerisch transformierten, Totengöttin aus heidnischer Vorzeit zu tun haben.
An diesem Punkt sind wir schon mittendrin in der Frage, wie die Baba Jaga denn eigentlich zu deuten sei. Ist sie gut? Ist sie böse? Weder noch – und daraus erwächst gerade die Faszination. Oberflächlich betrachtet könnte man sie als mächtige Hexe betrachten, was aber zu kurz greift. Vielmehr spricht einiges dafür, dass wir es mit einer, durch die Christianisierung erzählerisch transformierten, Totengöttin aus heidnischer Vorzeit zu tun haben. Darauf weist hin, dass sie die Verstorbenen zu sich holt, selbst Opfer sucht und die Schädel aufspießt. Es sind archetypische Verweise auf ihre Herkunft aus der Unterwelt – man denke hier auch an die nordische Hel, die auch über ein unterirdisches Reich herrscht. Wohlgemerkt heißt das nicht, dass die slawischen, respektive nordischen Heiden sie als böse Entität darstellen wollten. Die Ambivalenz resultiert daraus, dass möglicherweise der Tod zwar als bedauernswert, aber eben als zum Leben zugehörig betrachtet wurde. Irgendwann ist nun mal der Zeitpunkt gekommen – das hat weder etwas mit moralischen Einteilungen von „gut“ und „böse“ zu tun. Dieser Dualismus hielt wahrscheinlich erst in starkem Maße mit der Verbreitung des Christentums Einzug. Hinterher wurden auch die höheren Wesen des heidnischen Pantheons größtenteils dämonisiert, ein kleiner Teil kehrte „positiv“ in Form von Heiligenfiguren zurück. Aber das ist ein anderes Thema, das sich zu einem späteren Zeitpunkt lohnen würde, eingehender zu beleuchten.
Ein uralter Kult?
Die Baba Jaga könnte auch ein Teilaspekt eines sehr urwüchsigen, matriarchalen Kultes einer Muttergöttin sein. In einigen Märchen wird davon gesprochen, dass die Baba Jaga noch zwei Schwestern habe: es handele sich um eine Jungfrau und eine Mutter. Jungfrau, Mutter, altes Weib – diese „Dreifaltigkeit“ verweist wahrscheinlich auf ein und dieselbe Muttergottheit, deren Kult heute aber kaum noch zu rekonstruieren ist. Die drei Schwestern sind existenziell aneinander gebunden (!). Stirbt eine von ihnen durch Feuer oder ein Schwert, besprenkelt das alte Weib Jaga sie mit dem Wasser des Todes, wodurch die Wunden wieder heilen. Sie ist damit die Hüterin des Wasser des Lebens und des Todes – man könnte somit auch von einer Totengöttin sprechen. Ähnliche Hinweise auf den Kult einer Muttergöttin gibt es übrigens auch in Bezug auf die Frau Holle – auch das kann Thema eines zukünftigen Beitrages sein.
Wer nun also zur Weihnachtszeit oder den folgenden Rauhnächten selbst einmal Lust bekommen hat, in die Welt der Baba Jaga einzutauchen, kann das mit den herrlichen Verfilmungen „Abenteuer im Zauberwald“ oder „Feuer, Wasser und Posaunen“ tun. Ohne zuviel zu verraten zu wollen – in einem sehen wir die Baba Jaga in helfender und einmal in Form als Widersacherin. Aber vielleicht kann ich hier auch niemanden spoilern, weil beide Filme eh schon allen Lesern bekannt sind. Das würde mich einerseits nicht wundern, andererseits wäre es wieder erfreulich zu wissen, wie lebendig die alten Märchen doch heutzutage immer noch sind – zwar besonders, aber nicht nur in dunklen Jahreszeit.